Hier gibt es einen großartigen Bericht von Juliane Brantner über unsere Reise nach Aarhus zum AAVF22 🙂
Originalartikeln in den Perspektiven auf Seite 34
Mit neuen Ohren
Juliane Brantner
STYV – Styrian Voices, das ist der junge Popchor am Johann-Joseph-Fux-Konservatorium unter der Leitung von Patrik Thurner. Im Dezember 2021 haben sie eine Einladung zum Finale des Aarhus Vocal Festival von 3. bis 6. Juni 2022 in Dänemark erhalten und diese gerne angenommen. Über ihre Reise und was sich dadurch verändert hat, berichten sie uns.
FREITAG
Es ist noch dunkel, als sich die meisten von uns am frühen Freitagmorgen auf den Weg machen. 7:15 Treffpunkt in Wien Schwechat. Die Augen sind noch klein, aber das ist uns egal, denn unsere Vorfreude auf die kommenden Tage beim Aarhus Vocal Festival in Dänemark ist nicht zu bändigen. Das AAVF ist das größte Festival für Vokalmusik in Nordeuropa und zählt wie vokal.total dem internationalen A Cappella Wettbewerb in Graz zu den bedeutendsten Wettbewerben in Europa und weit über die Grenzen hinaus. Jedes zweite Jahr vereinen sich mehr als tausend Teilnehmende und deren Ensembles und Chöre aus zahlreichen Ländern. Im Zentrum stehen Konzerte, Workshops und Wettbewerbe, aber vor allem der Austausch untereinander. Eigentlich war unsere Bewerbung etwas weit gegriffen – umso größer unsere Freude über die Einladung nach Aarhus zum Finale des Wettbewerbs.
Noch beim Umstieg in München wird über verlorene Koffer gescherzt, zwei Stunden später stehen wir ungläubig am leer durchlaufenden Gepäckband in Billund. 11 von 20 Koffern fehlen, darin Auftrittskleidung, Mikrofone, Ladegeräte und viele andere wichtige Dinge. Unsere Koffer sind tatsächlich noch in München. Uns bleibt nichts anderes, als „Nachsendeformulare“ auszufüllen und zu hoffen – und so begeben wir uns mit etwas leichterem Gepäck nach Aarhus und ins Hotel.
Am Abend tauchen wir dann zum ersten Mal so richtig ein in das Aarhus Vocal Festival: Gemeinsam mit Hunderten anderen Teilnehmenden und dem legendären Chor „Vocal Line“ singen wir Leonard Cohens „Hallelujah“ fürs dänische Nationalfernsehen. Schon zu diesem Zeitpunkt wird klar: Es ist kein normales Publikum, das da singt. Auf Fingerzeig entsteht völlig ungeprobt ein großer Chor aus Menschen, die sich noch nie zuvor gesehen haben. Und es klingt gut.
Danach beginnt das Eröffnungskonzert: „Tuuletar“, die neu formierte „The Real Group“ und das „Beatbox Collective“ sorgen für Begeisterung in der ganzen Halle. Als die umfeierte Beatbox-Truppe dann auch noch UNSEREN Beatboxer und Coach Ivory Parker auf die Bühne holt, bekommt das AAVF erstmals zu spüren, wie laut 20 steirische Stimmen eigentlich sein können.
SAMSTAG
Während sich am nächsten Morgen die Truppe noch in Langschläfer, Sportlercherl, ausgiebig Frühstückende und fleißig für Prüfung Lernende aufteilt, sind wir nach dem „Vocal Warmup“ mit Jim Daus Hjernøe wieder vereint und bereit für unseren Workshop bei Morten Kjær, gemeinsam mit einem Ensemble aus Kopenhagen. Als unsere dänischen KollegInnen eine erste Kostprobe geben, wird uns klar: Uns gegenüber steht eine der vielen beeindruckenden Gruppen des Festivals, die nicht nur gut klingen, sondern auch eine top-professionelle und leidenschaftliche Performance abliefern. Als wir danach an der Reihe sind, unser Können zu zeigen, treffen sich einige Blicke in der Runde: Irgendwie ist allen bewusst, dass unser kleiner „Auftritt“ unter der ersten Drucksituation den weiteren Verlauf des ganzen Wochenendes prägen wird. Und bereits nach den ersten Takten von „Survivor“ ist klar: Wir sind sowas von da! Der ganze Chor bebt vor Energie und Spaß, was auch vom Workshopleiter Morten und dem dänischen Ensemble geradezu bejubelt wird. Wir bekommen tolle Inputs, viel Lob und neue Ansätze – und gehen mit einem richtig guten Gefühl in unseren weiteren Proben und Workshops.
Am Nachmittag steht der Wettbewerb für Ensembles am Programm und wir sind schwer beeindruckt vom Können und den Performances. Beeindruckt – aber nicht eingeschüchtert. Irgendwie hat Aarhus schon jetzt etwas in uns verändert: Wir sehen diese Gruppen, wir hören diese unglaublichen Sounds, wir sehen diese Performances und wir wissen: Das hier ist echtes „high level“. Aber vielleicht sind wir das auch.
Mittlerweile haben unsere Koffer endlich Aarhus erreicht und wir können uns für den „MusiCamino“ umziehen – einen Konzertspaziergang, der sämtlichen Schrittzählern in unseren Handys und Uhren begeisterte Benachrichtigungen entlockt. Wir werden von einer zur anderen Konzertlocation geschickt und erleben überall Beeindruckendes: ein Konzert der ätherischen „Åkervinda“, Tänze im Garten des Musikhauses, ein Vocal-Painting-Erlebnis mit Jim Daus Hjernøe und RAMA, einen kurzen Tanzworkshop mit südamerikanischen und afrikanischen Rhythmen, Jodeln und Barbershop am Wegesrand oder einen klassischen Chor, begleitet von elektronischen Soundeffekten.
SONNTAG
Der nächste Morgen verläuft gefühlt „wie immer“: Der Chor schläft, frühstückt, läuft und lernt, bis wir uns am Vormittag auf den Weg zu unserem gemeinsamen Warmup machen. Wie wir da so mit dem schönen Auftrittsoutfit auf Kleiderbügeln in der Hand nach einem geeigneten Probenplatz suchen, spüren wir das erste Mal diese nervöse Welle in der Magengegend: Heute ist es soweit! Nach einem kurzen Aufwärmen der allererste Song, gleich unser schwerstes Stück. Doch nach dem ersten Takt ist klar: Das haut hin. Die Probe verläuft gut und wir machen uns aufgekratzt auf den Weg zum Soundcheck.
Die Stunden bis zum Wettbewerb verbringen wir damit, zum Spaß ein Nicht-Wettbewerbs-Lied anzustimmen, unseren Coaches die Nägel zu lackieren oder ein bisschen Klavier zu spielen. Und dann ist es doch ganz plötzlich soweit und wir singen unsere Songs ein letztes Mal im Backstagebereich an. Ein letztes Mal vor dem Wettbewerb stecken wir all unsere Emotionen, unsere Erfahrungen, unser Innerstes in unsere Lieder. Und das spürt man bis in die Knochen. So haben wir noch nie gesungen. Nach dem letzten Ton reicht ein Blick in die Runde und wir wissen: Das war’s. Mehr muss es nicht sein. Es ist egal, was heute noch passiert. Niemand kann uns mehr diesen Moment nehmen, diesen einen völlig perfekten Durchgang, nach dem plötzlich mehrere Leute „etwas im Auge haben“.
Keine Zeit für Tränen, wir werden abgeholt. Gerade noch sehen wir den Vorgängerchor kurz backstage, auf einmal stehen wir auf der Bühne und Patrik gibt unseren ersten Ton an. Es ist soweit. Das ist der Moment, auf den wir hingearbeitet haben. Wir haben monatelang in unseren Wohnzimmern gegen die Zoom’sche Zeitverschiebung angesungen, wir sind über abgesagte Konzerte hinweggekommen, wir haben in Schichten geprobt und mit Mundschutz gesungen, wir haben alle möglichen Vorkehrungen getroffen und uns dann doch angesteckt. Wir haben Mikrofone und Outfits gekauft, Zeit, Geld und Nerven investiert. Wir haben Prüfungen, Arbeit, Auftritte und wichtige Termine verschoben, unsere Familien, Kinder, PartnerInnen zuhause gelassen und uns endlos lange über Outfits, Songauswahl und Performance ausgetauscht – all das für diesen einen Moment.
Gefühlt Sekunden später ist alles vorbei. Wir fallen uns hinter der Bühne in die Arme und wissen kaum, ob es eigentlich viel Applaus gab, so schnell ist alles an uns vorbeigerauscht. Aber wir wissen: Es war gut, wir können stolz auf uns sein und das sind wir auch.
Als wir nach dem Wettbewerb aufgekratzt und erschöpft zugleich wieder in den Backstageraum gehen, wird viel diskutiert. Es gibt klare Favoriten, die die Chance auf einen Platz am Podest doch sehr gering erscheinen lassen. Einig sind wir uns jedoch darüber, dass Patrik den Preis für das beste Arrangement des Pflichtstücks „Hollow Talk“ eigentlich bekommen MÜSSTE.
Nach einer Verschnaufpause (und dem besten Burger der Welt) geht es zum großen Galakonzert-Abend und wir stecken noch so tief in den Ereignissen des Tages, dass wir keine großen Erwartungen daran haben. Doch das Konzert von Vocal Line and Friends holt uns ab, zieht uns nochmals tief hinein in eine Welt der menschlichen Soundteppiche und zeigt uns, wo die Latte hängt. Wir erleben hautnah, wie weit und wie tief a-cappella-Chormusik gehen kann, wie perfekt sie klingen kann, wie sehr sie berühren kann. Es fließen mal wieder Tränen und bei jedem Song kann man es wieder von neuem nicht fassen.
Das Konzert wird beschlossen mit dem legendären „Viva la vida“ im Arrangement von Vocal Line und ein riesiger Saal voller Menschen singt mit. Nach diesem berührenden Abschluss gehen wir nach draußen, wo die Sonne um 22.20 gerade untergeht. Irgendwie haben wir das Gefühl, nach diesen Tagen und vor allem diesem Konzert mit anderen Ohren herumzulaufen als mit jenen, mit denen wir am Freitagmorgen losgeflogen sind. Es sind Ohren, die ganz anders hinhören. Ohren, die auch spüren können. Ohren, die hören, wo noch Platz ist für Harmonien und Rhythmus. Sie hören etwas, was noch gar nicht da ist, aber was noch kommen kann.
Da war ja noch was: Die Gewinner des Wettbewerbs vom Nachmittag werden verkündet. Also ab in die Location. Die Ansprache geht los und alle Gruppen werden nochmal kurz vorgestellt. Ein erster großer Jubel aus unserer Richtung geht los, als unsere Linda als „outstanding female vocalist“ erwähnt wird und wir schon mal platzen vor Stolz. Dann wird der special award für das Arrangement verliehen und über STYV hängt ein angespanntes Luftanhalten.
„… and we would like to present the innovative arrangement award to Patrik Thurner and Styrian Voices” ist der Teil der Ansprache, den man noch hört. Danach erfüllt das ohrenbetäubende Jubeln unserer Truppe den Saal. Wir lassen einfach alles raus. Patrik hat mit seinem Arrangement den Preis gewonnen und hält nun auf der Bühne tatsächlich einen AAVF-Award in Händen. In unserem andauernden Jubel geht fast unter, dass gerade der dritte Preis an unsere eigentlichen Favoriten verliehen wurde. Wie bitte? Kurz kommt Hoffnung auf, dass dann doch ein Preis drin sein könnte – aber TWÄNG aus Freiburg konnten die Jury mit ihrer Performance überzeugen. Egal, diese Feier haben wir uns jetzt verdient!
MONTAG
Es ist 21:10 am Flughafen Wien, Ankunftshalle. Seit 12 Stunden sind wir unterwegs. Seit 25 Minuten steht auf der Anzeige, unsere Koffer würden in „5 bis 10 Minuten“ ankommen. Rund um das Gepäckband haben sich unsere Leute verteilt.
Es ist kein Chor, der da steht. Es ist ein Haufen Reisender mit den verschiedensten Gefühlen und Zuständen. Die einen sind vertieft in ein Fußballspiel am Smartphone, das Summen einzelner verrät unterschiedliche Ohrwürmer. Manchen sieht man den Schlafmangel stärker an als den anderen, viele haben Hunger. Manche sind noch voller Nostalgie für die schönen Tage in Dänemark, andere können die Vorfreude auf zuhause kaum mehr aushalten. Gleichzeitig tickt für die Zugreisenden die Uhr und die Anspannung, ob und wann unsere Koffer tatsächlich ankommen, wird höher.
So verstreut wie unsere Gedanken und Gefühle sind, stehen wir in der Nähe des Gepäckbands, aber aus der einen Ecke vernehmen wir plötzlich zwei vertraute Stimmen: „I used to rule the world, seas would rise when I gave the word …“ Agnes und Helene haben „Viva la Vida“ angestimmt, mitten im Flughafen, mitten unter all den Menschen. Und es dauert nicht lange und wir alle stimmen ein in die vielleicht harmonischste Interpretation dieses Stücks, die wir jemals gesungen haben. Wann aus dem zerstreuten Haufen Reisender ein plötzlich im Kreis stehender Chor geworden ist, kann keiner mehr sagen. Und ob rundherum Menschen zuhören oder eilig weiterlaufen, interessiert auch niemanden. Wir stehen hier als Styrian Voices und in diesem Moment ist alles einfach (pitch) perfect. Wir haben einen Satz neue Ohren bekommen in Aarhus und wir haben vor, sie zu benutzen.